FOTO: Die dunkle Seite von Las Vegas - Das Leben in den Tunneln unter der Stadt des Glücksspiels

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Eine gewaltige Welt unter der Oberfläche
 

Die Erkundung dieser unterirdischen Welt ist gar nicht so schwierig. Dieses weitläufige Netz von Fluttunneln, das in den 90er Jahren gebaut wurde, erstreckt sich über das gesamte Las Vegas Valley und erreicht eine Länge von bis zu 1000 Kilometern. Obwohl die Tunnel dazu gedacht sind, Regenwasser abzuleiten, das sich in der Wüste nur wenige Tage im Jahr ansammelt, dienen sie die meiste Zeit als Zuflucht für Obdachlose und Drogenabhängige.

Die Gründe, warum die Menschen in dieses gefährliche Labyrinth fliehen, sind vielfältig, aber fast immer tragisch. Immer mehr landen dort aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten, denn die Mieten im Süden Nevadas sind in den letzten Jahren um Dutzende Prozente gestiegen. Viele von ihnen sind ursprünglich Touristen oder Menschen, die nach Vegas gekommen sind, um im Unterhaltungsgeschäft ihr Glück zu versuchen, aber beim Glücksspiel alles verloren haben und mittellos zurückblieben.

Abgesehen von der wirtschaftlichen Lage verstecken sich die Obdachlosen auch aus anderen Gründen in den Tunneln. Dort können sie sich vor der Polizei und ihren ständigen Razzien verstecken, die nach einem Urteil des Obersten Gerichts zur Durchsetzung des Verbots von Lagerplätzen in der Öffentlichkeit intensiviert wurden. Ebenso sind die Tunnel die einzige Zuflucht vor extremem Wetter – im Sommer bieten sie Schutz vor Temperaturen, die bis zu 50 °C erreichen können, und im Winter vor Frost und Schnee.


Der Überlebenskampf
 

Einer der Eingänge zu dem Labyrinth aus Fluttunneln liegt nur einen Steinwurf entfernt von den glitzernden Hotels wie Caesars Palace und Rio und bildet einen perfekten Kontrast zwischen zwei völlig verschiedenen Welten. Schon am Eingang der Tunnel trifft man auf Menschen, die um Hilfe bitten oder nach Drogen suchen.

Nicht alle leben gleich im Untergrund. Joe und Renée zum Beispiel haben sich einen hellen Platz in einem kürzeren Tunnel ausgesucht, wo sie auf ihrer Matratze eine Art Idylle geschaffen haben. Mit einem Kühlschrank und Campingstühlen sieht es aus wie ein kurzer Campingurlaub. Obwohl Joe nach außen hin sorglos wirkt, beginnt seine Idylle zu bröckeln, als er sich eine Pfeife mit Methamphetamin anzündet. Er erzählt, dass er einst ein hoffnungsvoller Musiker war, aber das Leben unterwegs satthatte und jetzt das Nichtstun genießt. Er spricht auch über das gefährliche Fentanyl, das den Drogen beigemischt wird, über Neid und darüber, dass es lebensgefährlich ist, Geld bei sich zu haben. „Jeder hier hat seine Dämonen“, fügt er mit einem traurigen Lächeln hinzu.

Ein Stück weiter trifft man auf einen Mann wie Big T. Auf den ersten Blick ein Rentner, in Wirklichkeit ist er jedoch erst 45. Seit zwölf Jahren lebt er in den Tiefen eines der Tunnel, weit entfernt von jedem Eingang. Das Leben im Untergrund hat ihn in dieser Zeit bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Seine Lebensgeschichte könnte für einen Hollywood-Film reichen: die Mutter Prostituierte, der Vater ein Gangster. Big T entschloss sich, in seine Fußstapfen zu treten und stahl vor Jahren eine Menge Geld aus dem Hilton Hotel. Jetzt dreht er leere Taschen um und sagt: „Das ist alles, was mir geblieben ist.“ Seine Geschichte ist voller Tragödien und verlorener Hoffnung. Mit Tränen in den Augen spricht er über seine Freundin, die vor eineinhalb Jahren in den Tunneln starb. Dieser harte Mann, der mehr erlebt hat als die meisten von uns, kann beim Gedanken an den Verlust die Tränen nicht zurückhalten. 

Und das sind nur einige der hunderten Lebensgeschichten, die im Schatten der „Stadt der Lichter“ stattfinden. Das Leben in den Tunneln ist ein düsteres Zeugnis davon, dass man auch in einer Stadt voller großer Gewinne ganz unten landen kann. Während Touristen um Millionen spielen, spielen die Bewohner der Tunnel jeden Tag ihr eigenes Spiel. Und in diesem ist der größte Gewinn das nackte Überleben.


Zurück aus der Hölle ins Licht
 

Die stärkste und komplexeste Geschichte, die man in den Tunneln finden kann, ist die von Robert Banghart. Heute arbeitet er für die Wohltätigkeitsorganisation Shine a Light als Vizepräsident für Gemeinschaftsintegration und hilft Menschen, die in derselben Lage sind, in der er einst war. Robert war fünf Jahre lang obdachlos, davon lebte er zwei Jahre in den Tunneln. Seit seiner Teenager-Zeit war er abhängig von Heroin und Methamphetamin. Das Leben im Untergrund vergleicht er mit dem Buch „Herr der Fliegen“, wo Gewalt an der Tagesordnung ist. 

Sein Fall auf den Boden war schleichend und unauffällig. „Man merkt es nicht, weil man sich allmählich an einen immer niedrigeren Standard gewöhnt“, erklärt er. Schon mit 17 landete er im Gefängnis. Nach der Entlassung übernachtete er bei Freunden, dann in Notunterkünften und landete schließlich in den Tunneln. Damals empfand er es als Erleichterung. Er hatte einen „eigenen Platz“, wo ihn niemand störte. Doch ohne Uhren und Tageslicht verlor er den Bezug zu Zeit und Realität. „Ich war verloren“, erinnert er sich. „Alles war unvorhersehbar und zufällig. Manchmal bin ich irgendwo aufgewacht und wusste nicht, wo ich bin. Alles zerfiel und die Drogen machten es noch schlimmer.“

Aus dieser Hölle holte ihn erst eine brutale Attacke, bei der ihn drei Männer niedergestochen und zum Sterben zurückgelassen haben. Er überlebte nur durch einen zufälligen Arbeiter, der ihn fand und einen Krankenwagen rief. „Ich hatte ein Messer im Bein stecken, eine Axt hat mich dreimal am Kopf getroffen. Ich hatte einen gebrochenen Kiefer und eine zerrissene Leber“, erinnert er sich. Lange balancierte er zwischen Leben und Tod. 

Er überlebte und entschied sich nach langer Genesung, sein Leben zu ändern. „Seitdem bin ich clean – abgesehen von etwa 60 Rückfällen“, gesteht er mit einer Portion Selbstreflexion. Die Rückkehr in ein normales Leben war für ihn herausfordernd. „Es hat einen Monat gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe, in einem Bett zu schlafen“, sagt er. „Ich musste lernen, Rechnungen zu zahlen oder den Müll hinauszubringen.“

Heute besucht er die Tunnel und versucht zu helfen. Er glaubt, dass selbst das kleinste Gespräch einen Samen der Veränderung pflanzen kann. „Ich lasse ihnen immer meine Telefonnummer und sage, dass sie mich anrufen können, wenn sie bereit sind“, erzählt er. Die meisten rufen nie an, aber Robert gibt nicht auf. Für ihn ist es ein Kampf, der Sinn macht. 


Las Vegas: Zwei Gesichter einer Stadt
 

Während oben am Strip Milliarden Dollar über die Tische gehen und Menschen ihre Siege an den Poker-Tischen feiern, kämpfen nur wenige Meter darunter andere um Essen, sauberes Wasser und das Überleben der nächsten Nacht.

Die Tunnel von Las Vegas sind ein Memento: Hinter jedem Glanz verbirgt sich ein Schatten. Und wie beim Poker gilt auch hier, dass sich das Blatt sehr schnell wenden kann.


Quellen: Wikipedia, Shine a Light LV, Deseret News, NZZ